Sehr frei nach: "Das kann echt nur uns passieren" von Teddy Beimar
("Satellit" 1992) 1.Kapitel
Sonntag,
der 25.Mai 2003, 9.30 Uhr. Strahlend blauer Himmel,
Sonnenschein, 22 Grad im Schatten. Allerbeste Voraussetzungen
für einen tollen Sommertag. In einer kleinen Seitenstraße auf
St.Pauli kommt ein verkaterter Mittdreißiger aus einem
Hauseingang und stolpert über den unteren Treppenabsatz.
“Scheiße das fängt ja gut an“. Er sollte eigentlich gar nicht so
tun, als ob andere Tage nicht so anfangen, schließlich stolpert
er fast jeden Morgen über den dummen Absatz und verflucht dafür
jedes Mal den Architekten, der das Haus in der Vorkriegszeit
errichtet hatte. Schon oft hatte er sich gefragt, was so ein
Absatz eigentlich in einem Hauseingang zu suchen hat.
Bevor
seine Gedanken weiter in die Vorkriegszeit schwelgen, wird er
von der Realität eingeholt. “Dummes Spiel, warum musste es
soweit kommen“, sabbelt er leise vor sich hin. Der Weg zum
Bäcker, der eigentlich nur wenige Schritte von seiner Wohnung
und dem verfluchten Treppenabsatz entfernt ist, scheint an
diesem Morgen genauso weit, wie die Strecke, die er vor zwölf
Jahren absolvierte, als er das erste und letzte Mal am
Hanse-Marathon teilnahm.
Es war
eine dumme Idee, wie sich im Nachhinein herausstellte. Sein
Freund Lemmy hat ihn dazu überredet. Ein Sportbegeisterter, der
ihn damals auch mit ans Millerntor schleppte. “Da musst du mal
mit hinkommen, die Jungs spielen geilen Fußball, die Atmosphäre
ist einmalig“, hatte Lemmy die Sache schön geredet.
Es war im
August 1988, der FC St.Pauli war gerade in die Bundesliga
aufgestiegen und hatte Eintracht Frankfurt zu Gast. 2:0 gewannen
die St. Paulianer damals, und die Atmosphäre während und rund um
das Spiel hatte ihn einfach angesteckt. Von nun an ging er zu
jedem Heimspiel, wenig später fuhr er auch mit zu den
Auswärtsspielen.
“Was für
eine Scheiße, dass es soweit kommen musste“, schoss es ihm
wieder durch den Kopf. Der FC St. Pauli war mittlerweile mehrfach
ab- und wieder aufgestiegen. Nach dem letzten Aufstieg 2001 in
Nürnberg hatten sie die Zebrastreifen auf der Reeperbahn Braun
und Weiß angemalt und im Jolly Roger bis in die Mittagsstunden
auf jeden eingesetzten Spieler in der Saison einen Sauren
getrunken. Ein Jahr später stieg der FC allerdings sang- und
klanglos wieder ab, - vom grandiosen 2:1-Sieg über die Bayern
einmal abgesehen.
Auch
gestern Abend saßen die beiden wieder im Jolly Roger und tranken
Sauren. “Einen auf jeden gewonnen Zweikampf“, hatte Lemmy
gebrüllt. Sie hatten getrunken. So, als ob das den braun-weißen
Kämpfern neue Energie geben könnte. Pro Schnaps ein gewonnener
Zweikampf, bei dreizehn eingesetzten Spielern macht das über 90
Minuten...
Er
verwischte den Gedanken an den gestrigen Abend. Sie hatten
bestimmt eine dreiviertel Stunde gerechnet, um auf die nötige
Anzahl Saurer zu kommen, die man braucht, um eine
abstiegsgefährdete Zweitligamannschaft am Vorabend des
entscheidenden Spiels zum Klassenerhalt zu trinken. Keine Frage,
sie hatten ihr Bestes gegeben...
Als er die
schmierige Glastür zum Bäckerladen öffnete, übertünchte
kurzzeitig der Geruch von frischen Mohnbrötchen die Gedanken an
den gestrigen Abend und das Schicksalsspiel.
“Hey,
Steven!“. Er drehte sich verwirrt um. Wer wagte es, ihn um diese
Uhrzeit aus nur eineinhalb Metern von rechts hinten – praktisch
aus dem Abseits – anzusprechen? “Hey, Steven, um diese Zeit
schon wach?“.
“Konnte
nicht mehr schlafen, musste immerzu an dieses Scheißspiel
denken“. - “Ach was Alter, das gewinnen wir im Schlaf. Denk
dran: für einen Sauren gibt’s ein gewonnenen Zweikampf, - bei
einem doppelten noch ein Tor“... - “Hör auf mit der Sauferei.
Ich fühl mich, als wenn wir gestern jeder drei Flaschen Sauren
getrunken hätten!“. - “Ham’ wir doch! Deshalb gewinn’ wir heute
auch. Mach dir keine Sorgen, wir steigen nicht ab“.
Das war
es, was Steven die ganze Nacht trotz des niedrigen Blutpegels im
Alkohol hatte schlecht schlafen lassen. Die Saison war wirklich
grausam gewesen. Aufstiegstrainer Didi Demuth musste bereits am
zweiten Spieltag seinen Hut nehmen, sein bisheriger Co-Trainer
Joachim Philipkowski, der bis dahin Amateurcoach war, über nahm
den Trainerstuhl bei den Profis.
Doch es
ging weiter bergab. Nur ein Auswärtssieg in Mannheim in der
gesamten Hinrunde, dazu peinliche Heimniederlagen und desolate
Mannschaftsleistungen. Auf der Mitgliederversammlung im Oktober
wurden gleich acht Abwahlanträge gegen Präsident Reenald Koch
gestellt. Doch zur Abstimmung kommt es nicht – man vertagte
sich.
Anfang
November, drei Wochen vor dem zweiten Teil der
Jahreshauptversammlung, gab Koch seinen Rücktritt zum Jahresende
bekannt. Ein Job in der freien Marktwirtschaft sollte es sein.
Das anschließende Auswärtsspiel bei Greuther Fürth ging nicht
nur mit 1:2 verloren, zwei Platzverweise sorgten für weiteren
Zündstoff. Es brodelte an allen Ecken und Kanten im Verein.
Besonders an den Kanten.
Auch die
Rückrunde war ein einziges Desaster. Selbst beim Hamburger
Hallenturnier – sonst fast ein Selbstgänger für den Kiezklub –
schied man in der Vorrunde aus. Die eigenen Amateure gewannen
schließlich das Turnier durch einen grandiosen 4:1-Sieg gegen
den HSV.
In der
Liga bekamen die St. Paulianer kein Bein mehr an Deck. Fast
durchgehend standen sie auf einem Abstiegsplatz, - selbst
Aufsteiger Burghausen hatte am Millerntor 6:0 gewonnen. Nun war
das gekommen, was am Anfang der Saison noch niemand für möglich
hielt: Der FC St.Pauli musste im letzten Spiel bei Alemannia
Aachen unbedingt gewinnen, - und das reichte noch nicht: Nur bei
einer gleichzeitigen Niederlage von Braunschweig daheim gegen
Mainz wäre der Klassenerhalt gesichert.
Keine
Frage, für Aachen ging es um nichts mehr. Die Mannschaft war
jenseits von Gut und Böse und hatte sicherlich auch ein
Interesse daran, dass der FC St.Pauli in der Liga bliebe.
Schließlich sicherten die Kiezkicker jedes Mal ein volles Haus
zu...
Sorgen
machten ihm nur die Mainzer. Die waren ebenfalls im gesicherten
Mittelfeld, konnten weder nach oben noch nach unten, hatten nach
einem guten Start dann aber alle Aufstiegschancen verspielt.
Ließen die sich vielleicht hängen? “Hey, jetzt lass uns erst mal
geil frühstücken und dann geh’n wir ’n schönes Gezapftes
trinken“, versuchte Lemmy den mittlerweile völlig verstörten
Steven wieder aufzurichten.
“Was kann
ich für dich tun?“, unterbrach die krächzende Stimme der etwa
60-jährigen Verkäuferin die weitere Planung des Tages.
Inzwischen hatte Steven auch den Geruch der frischen
Mohnbrötchen über, und er überlegte kurzfristig, ob er statt des
üblichen “zwei Mohn“ lieber “zwei Astra“ ordern sollte. Doch
schnell verwarf er den Gedanken an den frühzeitigen
Alkoholgenuss wieder. “Wie immer“, stammelte Steven und kramte
umständlich nach dem benötigten Eurostück in seiner speckigen
Jeans. “Weißt du Lemmy, was mich besonders ärgert ist, dass die
Amateure sich den ganzen Stress mit den Relegationsspielen
umsonst gemacht hätten, wenn die Flaschen heuten gegen Aachen
verlieren“. - “Wir verlieren heute nicht!“, entgegnete Lemmy
scharf. “Denk an die Sauren...“.
Langsam
bekam Steven den Eindruck, dass Lemmy sich von der Sauferei noch
nicht so recht erholt hatte und immer noch im Stimmungshoch
schwebte, welches in den Kneipen auf dem Kiez vor solchen
Spielen so herrscht. Und er hatte recht. Lemmy hatte nämlich noch
gar nicht geschlafen. Nachdem Steven vom Jolly Roger nach Hause
gewankt war, waren er und drei andere aus der Clique noch in der
MaxBar verendet. Zwar hatte Lemmy zwei Stunden auf dem
gut gepolsterten Sofa in der hintersten Ecke der Kneipe
geschlafen, doch sein eigenes Bett war in dieser Nacht unberührt
geblieben, - und das sah man ihm auch an. Erst jetzt merkte
Steven, dass sein Kollege noch eine unglaubliche Fahne hatte,
die nicht nur den unerträglichen Geruch von unverdunstetem
Alkohol, sondern auch leichte Andeutungen von bereits verdautem
Mageninhalt beherbergte.
“Warst du
noch gar nicht zu Hause, oder wat?“. - “Nee Alter, nicht so
ganz. Als ich gerade geh’n wollte bin ich irgendwie wieder
eingepennt. Weiß nicht mehr so genau“. Steven überlegte kurz,
was aus seinem Freund geworden war. Früher hatte er weder
geraucht noch getrunken, war jeden Morgen um acht Uhr zum Joggen
aufgestanden und spielte aktiv Fußball bei den vierten Herren
des FC St.Pauli. Doch auch diesen Gedanken wollte Steven nicht
weiter verfolgen. Warum auch, schließlich war er selbst nicht
besser. Sie unterschieden sich nur dadurch, dass er selber nie
Fußball gespielt hatte und schon viel länger rauchte und trank
als Lemmy. Das war aber auch alles.
“Du, wann
is’n das Spiel der Amateure morgen eigentlich bei Arminia
Hannover?“, unterbrach ihn Lemmy. “Abfahrt 15 Uhr, Anpfiff 19
Uhr, haste keinen Platz im Bus?“. - “Doch, klar. Treffen wir uns
vorher zum Saufen?“. - “Wart’ doch erst mal ab, was heute kommt.
Wenn wir gegen Aachen verlieren, müssen die Amateure sowieso
zurückziehen“.
Steven
hatte recht. Die Situation war fatal. Die Amateure des FC
St.Pauli hatten eine geniale Saison in der Oberliga hingelegt,
waren mit zehn Punkten Vorsprung vor dem ungeliebten SC
Concordia ungeschlagen (!) Meister geworden. Ein
Fanzine-Redakteur fand während der gesamten Spielzeit niemanden
unter den Spielern, Trainern und Fans, die hätten dagegen wetten
wollen.
Selbst die
Millionentruppen aus Bergedorf und von Concordia, die als
Favoriten gestartet waren, wurden jeweils zweimal besiegt. Nun
hatten die Amateure das Hinspiel gegen den Meister der Oberliga
Niedersachsen / Bremen, die Arminia aus Hannover am Millerntor
vor über 5000 Zuschauern mit 5:2 gewonnen, - der Aufstieg in die
Regionalliga war somit sehr, sehr nah.
Sollten
die Profis des FC St.Pauli den Klassenerhalt nicht schaffen,
wäre dies jedoch Makulatur und absolut für die Katz’ gewesen,
denn beide Mannschaften können schließlich nicht in der
Regionalliga spielen. Auch Lemmys Optimismus verflog langsam.
“Meinst du wirklich, dass wir verlieren? Das kann ich mir gar
nicht vorstellen“. - “Ich glaube es auch nicht. Aber diesen
dummen Mainzern ist eh alles egal... Ich mag gar nicht dran
denken“. Lemmy schien langsam zur Besinnung zu kommen. “Hast ja
recht. Komm’, wir geh’n zu mir. Ich muss dringend duschen“. -
“Und Zähne putzen“, fügte Steven grinsend hinzu. Nun war er
schon fast wieder gut drauf.
2.Kapitel
Der
nächste Morgen war einer der schlimmsten, den Steven in seinem
wenig ereignisreichen Leben mitgemacht hatte. Er hatte einen
Haufen Unsinn geträumt, unter anderem, dass er in der
Herbertstraße von einem glatzköpfigen Zuhälter mit einem
Baseballknüppel verprügelt worden war, und dass er anschließend,
als er blutend in der Gosse lag, von einem völlig besoffenen
bayrischen Touristen angepinkelt wurde und ihn die umstehenden
Nutten dabei auslachten.
Das
Gelächter der Damen hallte noch in seinem Kopf, als er langsam
aus seinem Traum erwachte. Die Sonne schien durch sein
verdrecktes Fenster, und die Strahlen zerbrachen an den
Schmierstreifen, die noch von dem letzten Fensterputz vor gut
einem Jahr stammten, wie kleine Schnapsgläser, die von einem
Trunkenbold nach dem Ausleeren am Kneipentresen zerschellt
wurden.
Bevor er
begriff, was gestern alles passiert war, hatte er lange damit zu
tun, das Klirren der Schnapsgläser aus seinem Kopf zu verbannen.
Der erste einigermaßen klare Blick richtete sich auf seinen
Wecker, der um 11.30 Uhr fast zehn Minuten in den fiesesten
Tönen gepiepst hatte, aber selbst dieses Geräusch, das in der
Natur höchstens dann entstehen könnte, wenn ein abgebrochenes
Schilfrohr unter Umgehung aller physikalischen Umstände durch
den Sog in die Höhe gewirbelt würde, und dort, von den
Nachwirkungen eines eben vorbeigezogenen Hurricans erfasst,
waagerecht in der Luft stände und der Wind an der Knickstelle
brechen würde und dadurch eben jenen fiesen Pfeifton erzeugen
würde, - eben dieser fiese Ton hatte ihn nicht geweckt...
“Scheiße,
ich muss zum Bus“. Steven rappelte sich auf, überlegte kurz –
wenn man bei dem vorhandenen Alkoholpegel überhaupt von
“Überlegen“ sprechen konnte – und legte sich wieder hin.
“Quatsch, ist ja eh alles vorbei!“, dachte er enttäuscht. Oder
etwa doch nicht?
Steven
riss sich zusammen, um seine völlig alkoholisierten Gedanken
wieder zu ordnen. Es war jetzt 12.15 Uhr und er war erst gegen
acht Uhr morgens ins Bett gegangen. Aber das wusste Steven gar
nicht mehr...
Tags zuvor
hatten er und Lemmy pünktlich und gut ausgerüstet den Sondezug
nach Aachen zunächst in Altona und kurz danach am Hauptbahnhof
verabschiedet, hatten den Reisenden hinterher gewunken und ihre
Fahnen geschwenkt. Denn sie fuhren nicht mit. Dafür gab es
allerlei Gründe. “Die Nerven, - ich bin ja keine Zwanzig mehr“,
hatte Steven gesagt. “Viel zu teuer“ hatte Lemmy eingeworfen. So
hatten sie sich entschieden, die Fahrenden am Bahnhof zu
verabschieden und ihnen alles Gute zu wünschen. Sie selbst
wollten sich das Spiel auf der Großbildleinwand auf dem
Heiligengeistfeld ansehen. Zwei Jahre zuvor, beim Aufstieg in
die erste Liga, fand das Spiel in Nürnberg statt und vor dem
Millerntor versammelten sich über 30.000 Menschen um die
Live-Übertragung auf mehreren Großbildleinwänden zu verfolgen.
Damals waren Lemmy und er mit nach Nürnberg gefahren und waren
beim 2:1-Sieg im Frankenstadion dabei gewesen. Doch dieses Mal
wollten sie nicht mitfahren...
Als sie
auf dem Heiligengeistfeld ankamen, waren erst wenige Leute da.
Der Platz füllte sich allerdings ebenso schnell, wie einige
Leute das Bier in sich reinschütteten. Lemmy und Steven machten
da keine Ausnahme. In der Mittagshitze wirkte der Alkohol
schneller und heftiger. Doch die nahe gelegene Tankstelle und
später die mobilen Händler versorgten die immer größer werdende
Menge mit reichlich Flüssigkeit.
Als um
kurz vor 15 Uhr die ersten wackligen Bilder aus Aachen über die
Bildschirme flackerten, gab es einen großen Aufschrei in der
Menge, der sicherlich noch bis Fuhlsbüttel zu hören war. Als die
Mannschaften den Rasen des Aachener Tivoli betraten, glich das
Heiligengeistfeld einem Fahnenmeer in Braun und Weiß.
Nach nur
zehn Minuten der nächste kollektive Freudentaumel: Philip
Albrecht erzielte die Führung für die Kiezkicker. Lemmy umarmte
Steven und kippte ihm dabei den Rest seines Astra über die
tätowierte Schulter. “Tooor!“, schrie er ihm ins Ohr, sodass
Steven fast taub wurde. Es drehte sich sowieso schon alles...
Kurz vor der Pause führte St.Pauli durch weitere Treffer von
Daniel Sager (per Freistoß) und abermals Albrecht mit 3:0. Die
St. Pauli-Fans in Aachen und auf dem Heiligengeistfeld gerieten
in Verzückung. Das Bier und sonstige Alkoholika flossen in
Massen.
Steven
ging in der Halbzeit in die Büsche neben der Domwache um seine
Blase zu entleeren. Nicht die feine Art, aber vor den blauen
Klo-Containern hatten sich lange Schlangen gebildet und er
konnte kaum noch anhalten. Ein kleiner Junge stand neben ihm
hinter einem Baum versteckt und presste ein kleines Radio an das
Ohr. “Pssst“, fuhr er Steven an. “Noch 0:0 in Braunschweig!“,
schrie er plötzlich und Steven pinkelte sich vor Schreck auf die
Schuhe. Das würde nicht reichen war Steven bewusst und er hatte
es plötzlich sehr eilig wieder zu seinem Freund Lemmy zu kommen.
Als er ihm den aktuellen Zwischenstand von dem anderen wichtigen
Spiel übermitteln wollte, herrschte Lemmy ihn an: “Weiß ich
schon! Scheiße! – Haste Bier mitgebracht?“.
Sie holten
sich eine ganze Palette Astra an der Tankstelle neben dem Bunker
und dazu eine Flasche Jägermeister. Auch dort lief die
Radioübertragung. “Echt, es ist nicht zu glauben“, meinte
Steven. “Da führen unsere Jungs, geben alles und die blöden
Mainzer wollen einfach kein Tor schießen“. Der Kassierer nickte
zustimmend und murmelte “Scheiß Karnevalsverein!“.
Als die
beiden wieder ihren Platz vor der Großbildleinwand eingenommen
hatten, erzielte Hauke Brückner gerade per Elfmeter das 4:0.
Doch es half ja alles nicht. Es kam wie es kommen musste.
St.Pauli gewann in Aachen mit 5:1, doch Braunschweig gelang in
letzter Minute noch der Siegtreffer gegen Mainz, - ausgerechnet
durch den Ex-St. Paulianer Michel Dinzey. St.Pauli war
abgestiegen.
“Das halt
ich nicht aus!“, schrie Steven und sank zu Boden. Gleichzeitig
flimmerten vor seinem geistigen Auge die Bilder aus vergangenen
Zeiten, als er mit seinem Vater die Sportschau gesehen hatte und
sie sich gemeinsam über die dickbäuchigen Männer amüsierten, die
angesichts des Abstiegs ihres Vereins hemmungslos in die Kameras
flennten. Gestandene Männer in blauen Schals, die wegen Fußball
weinten und schluchzten – damals für ihn unvorstellbar.
Nun merkte
Steven, wie ihm langsam eine Träne über die Wange rollte. Dann
jagte eine die andere und schließlich fing er hemmungslos an zu
weinen. Der kleine Junge mit dem Radio setzte sich neben ihn,
legte den Arm auf seine Schulter und weinte mit.
“Scheiße!
Scheiße! Scheiße!“, brüllt Lemmy. “Und was ist nu’ mit den
Amateuren? Alles umsonst! Scheiße! Scheiße! Und noch mal
Scheiße!“. Er war außer sich vor Wut, - hätte man meinen können.
Doch eigentlich war er nur unendlich traurig, frustriert und
ratlos. Es war in der Tat ein Dilemma.
Die
Amateure brauchten erst gar nicht nach Hannover zu fahren, denn
selbst wenn sie
- wovon alle Amateur-Fans ausgingen – sich die Butter nicht
mehr vom Brot nehmen ließen, - sie dürften nicht aufsteigen,
denn die Profis waren soeben abgestiegen. Es war zum
Verzweifeln.
Steven
brauchte fast eine halbe Stunde, bevor er sich aus seiner
Kauerstellung erhob. Langsamen Schrittes bewegte er sich
Richtung Clubheim. Um ihn herum schluchzende Menschen, die eine
Stimmung verbreiteten, als sein soeben die Nachricht
eingetroffen, dass die ganze Welt in zehn Minuten mit einem
riesigen Knall untergehe. Aber in Wirklichkeit war alles viel
schlimmer. Steven fühlte nur Ohnmacht, die sich von Minute zu
Minute in Hass gegenüber den Mainzern verwandelte. “Diese
Schweine! Die sind schuld!“, stammelte er vor sich hin. Aber es
hörte ihm niemand zu.
Im
Clubheim angekommen, musste er feststellen, dass gerade die
DSF-Sendung mit den Spielen der Zweiten Liga begonnen hatte. Vor
dem Fernseher, der schon seit Jahren die Besucher mit den ersten
Bildern der Bundesligaspiele versorgt hatte, hockten einige
frustriert dreinblickende St. Pauli-Fans. In diesem Moment
übertrug das Gerät gerade Bilder von ein paar jubelnden
Braunschweig-Fans in das zwar gefüllte aber auch vollkommen
stille Clubheim. Wie besinnungslos ließen die Anwesenden auch
den Rest der Sendung über sich ergehen.
3.Kapitel
Es war
schon fast halb neun, als ein reichlich beschickerter junger
Mann die Stufen des mittlerweile fast leeren Clubheims herunter
torkelte und brüllte: “Schmeißt die Kiste an, es is’ was
passiert!“. - “Was willste denn?“, fragte ein noch
beschickerterer etwa 40-jähriger Mann. “Ist Schill vom Michel
gesprungen?“, brachte ein anderer gerade noch raus, bevor er vom
Stuhl kippte.
“Nein,
nein“, brüllte der junge Mann. Dabei schien er sehr aufgeregt,
wie Steven plötzlich auffiel.
“Was ist
denn nu’ eigentlich los?“, wollte Lemmy von Steven wissen, als
der Neuankömmling plötzlich lauthals brüllt: “Braunschweig hat
einen nicht spielberechtigten Kicker eingewechselt!“. Langsam
erhoben manche die Köpfe von den Tischen und Lemmy war bereits
dabei, die Knöpfe am Fernseher zu malträtieren. Der Wirt hinterm
Tresen kam nach vorn und stellte den Apparat an. Im gleichen
Moment ertönte die „Hattrick“-Melodie und ein bereits sichtlich
angeschlagener Moderator begrüßte die Zuschauer:
“Hallo und
Guten Abend meine sehr geehrten Damen und Herren. Ich hätte kaum
gedacht, dass ich sie zu später Stunde noch einmal begrüßen
darf, aber eine schier unglaubliche Entwicklung in der bereits
geklärten Abstiegsfrage in der 2.Liga veranlasst uns zu einer
Sondersendung“. Atemlose Stille im Clubheim, nur ungläubig
dreinblickende Gesichter mit weit offenen Mündern. Die Worte des
Moderators waren nicht gerade klug gewählt, aber er selbst hatte
wohl schon beim Feierabendbierchen gesessen und über die
Ungerechtigkeiten des Fußballs sinniert.
Doch was
der Mann gerade erzählt hatte war wahr. Braunschweigs neuer
Trainer Christof Dumm hatte im Eifer des Gefechts einen Spieler
der Amateure eingewechselt, der noch keine Freigabe für
Profieinsätze erhalten hatte. “Wegen dieses Verstoßes wird das
Spiel Braunschweig – Mainz mit 0:3 Toren und drei Punkten für
die Gäste gewertet“, verkündete der DSF-Moderator in diesem
Moment. “Ein Einspruch dagegen ist nicht mehr möglich“.
“Ahhh,
Ahhhh, Ahhhhhh!“, schrie einer, und es war Steven der sich
sogleich Lemmy schnappte, ihn jubelnd umarmte, sich mit ihm im
Kreis drehte, - um gemeinsam mit drei weiteren Tischnachbarn
samt Stühlen umzufallen.
Aus einer
Kneipe an der Budapester Straße, deren Besucher ebenfalls die
Sondersendung verfolgt hatten, stieg eine Leuchtrakete auf, um
sozusagen die gute Nachricht in alle Himmelsrichtungen zu
verbreiten. Irgendwo tanzten wildfremde Menschen zusammen auf
der Straße, auf Kneipentischen und auf den Balkonen. Und weit
weit weg saß ein frustrierter Braunschweiger Trainer, der es
nicht fassen konnte, dass er zum zweiten Mal in seinem Leben
einen entscheidenden Einwechselfehler gemacht hatte...
Letztes Kapitel
Steven
hatte fast zehn Minuten gebraucht, um die Ereignisse des
Vorabends zu ordnen. Lemmy und er hatten sich, nachdem sie die
Nachricht erhalten und einigermaßen verarbeitet hatten, so
grenzenlos betrunken, dass er nun wirklich keine Ahnung mehr
hatte, was nun eigentlich wirklich alles passiert war.
Er sah
wieder auf die Uhr. Schon gleich halb eins. “Die Amateure! Die
Amateure! Ich muss zum Bus!“.
Neben ihm
tauchte auf einmal aus einem Haufen dreckiger Klamotten Lemmy
auf, der den Weg nach Hause offensichtlich erneut nicht gefunden
hatte.
Steven
ließ sich keine Zeit mehr um sich über Lemmy zu wundern, der
eigentlich nie beim ihm schlief, schon gar nicht in einem Haufen
dreckiger Kleider. “Komm’ hoch, los, komm’ hoch! Wir müssen
los“, brüllte er ihm ins Ohr. “Wie jetzt? Was is’n los?“,
murmelte Lemmy. “Mann, der Bus, die Amateure! Los komm’, wir
müssen nach Hannover!“. Lemmy schnellte urplötzlich hoch, zog
seine ehemals weißen Turnschuhe an -
den Rest hatte er gar nicht erst ausgezogen – und zwei Minuten
später machten sich zwei überglückliche Freunde auf den Weg zum
Clubheim.
Pünktlich
um 14 Uhr fuhren die drei Fan-Busse vom Heiligengeistfeld
Richtung Hannover los. Auf der hintersten Bank eines der Busse,
saß Steven und sah nur verträumt aus dem Fenster. Er dachte über
die gestrigen Ereignisse nach. “Du, wenn die Amateure jetzt noch
aufsteigen, dann war das mit die geilste Saison, die ich je
erlebt habe“. - “Sollen wir nachhelfen?“, fragte Lemmy. “Du
weißt doch: Pro Saurer ein gewonnener Zweikampf“...
Ende
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